Vor 15 Jahren folgten dem Motto «Le Pen verhindern» noch Millionen von Franzosen. Heute lösen die Aufrufe zur nationalen Einheit zum Schutz der Demokratie keine Massenproteste mehr aus. Auch Spitzenpolitiker reagieren auf die rechtsextreme Bedrohung mit Schweigen oder Zögern. Die «Front républicain» ist gefährlich am Bröckeln.
Tagelang gingen im April 2002 in Paris, Marseille, Straßburg, Toulon und Lyon zuerst Tausende, dann Hunderttausende von Franzosen auf die Straßen. Sie folgten dem Aufruf der Grünen, der Kommunistischen Partei, der Linken, Schülerverbänden und Menschenrechtsorganisationen gegen den Ultranationalisten und Gründer der rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, eine Front zu bilden. Am 1. Mai 2002 protestierten landesweit zwischen zwei und drei Millionen Franzosen. Was war passiert?
Kurz vor Schließung der Wahllokale am Abend des 21. April kamen Gerüchte auf, dass es Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl geschafft habe. Um zwanzig Uhr bestätigten die ersten Ergebnisse das für alle für Unmöglich gehaltene. Jean-Marie Le Pen hatte mit 16,2 Prozent den Sozialisten Lionel Jospin geschlagen. Damit war der Weg in die zweite Runde gegen den Gaullisten und Amtsinhaber Jacques Chirac frei.
Keine spontanen Protestaktionen
Innerhalb weniger Stunden zogen Tausende Jugendliche auf die Straßen, um ihre Opposition gehen Rassismus und Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen. Andere Teile der Bevölkerung schlossen sich dem Protest gegen den Rechtspopulismus an. Die Demonstrationen erfassten das ganze Land und wuchsen zu Großkundgebungen an. Die Bilder der Millionen von Menschen, die für Demokratie und Freiheit protestierten, gingen um die ganze Welt. Die Endrunde gewann Chirac mit 81,7 Prozent.
Am 23. April 2017 bildeten sich nach der Bekanntgabe, dass seine rechtspopulistische Tochter Marine Le Pen mit 21,4 Prozent in den Endspurt in den Elysée-Palast gekommen ist, keine spontanen Protestbewegungen. Keine Jugendlichen und Studenten zogen zu Tausenden durch das Land. Es sei schwer geworden gegen die Front National zu mobilisieren, sagte Jimmy Losfeld, Präsident des Dachverbands studentischer Vereinigungen. Die Franzosen hätten keinen gemeinsamen Diskurs mehr.
Gespaltene Haltung
Während der Chef der Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ Jean-Luc Mélenchon 2002 noch gegen Jean-Marie Le Pen seine Truppen mobil machte, schweigt der Volkstribun nun. Mit 19,6 Prozent schied er aus dem Präsidentschaftswahlkampf aus. Er wollte die Ergebnisse der Hochrechnungen am Sonntagabend nicht anerkennen und akzeptierte erst die vom Innenministerium verkündeten Ergebnisse. Er hat seine Anhänger nicht aufgerufen, gegen Marine Le Pen Front zu machen und den Parteilosen Emmanuel Macron zu wählen, der mit rund 24 Prozent als Erstbester aus dem ersten Wahlgang hervorging. Seine Wähler seien in ihrer Entscheidung frei, erklärte er nach der Bekanntgabe der Ergebnisse. Es haben zwei Kandidaten gewonnen, die das System fortsetzen wollen, welches die sozialen Errungenschaften zunichte machen will. Damit setzte er de facto eine Wahl für Emmanuel Macron und für Marine Le Pen auf die gleiche Ebene.
Der talentierte Rhetoriker hat bis zum Schluss den Wahlkampf aufgemischt. Manche glaubten schon an ein Rennen zwischen ihm und Marine Le Pen. Wie seine Wähler sich nun entscheiden werden? Auch wenn viele Programmpunkte der beiden unterschiedlich sind, in einigen Grundpositionen sind sie sich dennoch sehr ähnlich. Beide wettern gegen die Eliten, wollen aus der NATO raus und führen Feldzüge gegen den Wirtschaftsliberalismus. Vor allem aber sind beide gegen Europa und den Euro. Allerdings ist das Programm von Mélenchon in der Innen- und Gesellschaftspolitik gänzlich unvereinbar mit dem von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geprägten FN-Programm.
Auch die römisch-katholische Kirche in Frankreich hält sich zurück. In einer Pressemitteilung kurz nach dem ersten Wahlgang teilte sie mit: Die katholische Kirche ruft nicht dazu auf, für den einen oder anderen zu stimmen. Auch sie hat es den Franzosen überlassen, ihrem Urteilsvermögen zu folgen. Im Jahr 2002 rief sie ihre Mitglieder noch auf, nicht für Jean-Marie Le Pen zu stimmen. Während 2002 auch Frankreichs Gewerkschaften innerhalb von nur 24 Stunden sich gemeinsam hinter den Aufruf gestellt hatten, sind sie diesmal das, was sie schon immer waren: untereinander zerstritten.
Für «Republikanischen Front» haben sich hingegen eindeutig der Sozialist Benoît Hamon und der rechtsbürgerliche François Fillon gestellt. Beide gehörten bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen zu den Favoriten ihrer Partei, beide sind mit jeweils 6,4 und 19,9 Prozent ausgeschieden. Und beide haben ihre Wähler aufgerufen, ihre Stimme nicht Marine Le Pen zu geben. Doch vor allem die Rechte will dem Ex-Premier Fillon nicht geschlossen folgen. Einige sind für ein weder noch: weder für Macron aufrufen, aber gegen Marine Le Pen stimmen. Eine Situation, die auch die Spannung innerhalb der Republikanischen Partei und eine mögliche Explosion des rechten Lagers widerspiegelt.
Banalisierung der Front National
Christine Boutin, die von 2007 bis 2009 in der bürgerlichen Regierung von Fillon Ministerin für Wohnungs- und Städtebau war, gehört zu jenen, die nicht Fillons Aufruf folgen wird. Sie werde niemals ihre Stimme Macron geben und für Marine Le Pen stimmen. Sie habe immer die Front National bekämpft, doch Monsieur Macron sei ein reines Produkt der Finanzwelt, erklärte Boutin ihre Entscheidung. Er verkörpere all das, was sie in ihrer dreißigjährigen Karriere bekämpft habe. Boutin gilt als erzkonservativ und unterstützt «La Manif pour tous», eine Bewegung, die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare. Die Bewegung hat stark Fillon unterstützt, der teilweise ihre Positionen teilt. Rund 44 Prozent der katholischen Bevölkerung hat für Fillon gestimmt. Potentielle Wähler für Marine Le Pen.
Ein Remake des 21. April 2002 scheint heute unmöglich. Die Gründe dafür? Marine Le Pen hat es geschafft, die Partei ihres Vaters salonfähig zu machen. Sie hat ihre Rhetorik kontrolliert und gepflegt, rassistische und antisemitische Parolen vermieden, für die ihr Vater wiederholt vor Gericht musste. Nicht immer ist ihr das gelungen. Erst vor wenigen Wochen sorgte sie mit einer Äußerung über die Judenverfolgung für Aufsehen. Im französischen Fernsehen erklärte sie, dass Frankreich nicht verantwortlich für die Razzia des Vélodrome d’Hiver in Paris sei. Bei der Razzia in der Sporthalle mit Radrennbahn in Paris in der Nähe des Eiffelturms nahmen in der Nacht auf den 17. Juli 1942 französische Polizisten mehr als 13.000 Juden fest, darunter mehr als 4000 Kinder. Paris war damals von deutschen Truppen besetzt.
Ein weiterer ist, dass alle davon ausgegangen sind, dass Marine Le Pen in die Stichwahl kommt. Es war keine Überraschung mehr wie 2002. Überraschend war allerhöchstens, dass sie nicht mehr als 21,4 Prozent bekommen hat. Anfänglich wurden bis zu 26 Prozent vorhergesagt. In Frankreich hat man sich schon längst an den Front National in der politischen Landschaft gewohnt. Das ist in dem Jubel um den Sieg von Macron im ersten Wahlgang völlig untergegangen: Die Empörung, dass in Frankreich eine Rechtspopulistin an der Schwelle zum Präsidentenpalast steht.
Emmanuel Macron – Jacques Chirac
Am erschreckendsten hat sich diese Banalisierung der rechtsextremen Partei in der Haltung Macrons nach seinem Sieg der ersten Wahlrunde gezeigt. Er ließ sich schon als zukünftiger Präsident feiern und bedankte sich bei seiner Frau Brigitte. Mit keinem Wort erwähnte er die Gefahr des Rechtspopulismus und die Bedrohung der Demokratie und der Werte wie Freiheit, Toleranz und Respekt.
Die Rede Chiracs nach dem erschreckenden Ergebnis am Abend des 21. April 2002 hingegen, ist in die Geschichte Frankreichs eingegangen: «Was heute auf dem Spiel steht, ist unser nationaler Zusammenhalt, die Werte der Republik, an die alle Franzosen glauben. Was heute auf dem Spiel steht, ist die Idee, die wir vom Menschen haben, seinen Rechten und seiner Würde. Das ist die Idee, die wir von Frankreich haben, seiner Rolle und seinen Platz in Europa und der Welt. […] Ich rufe alle Französinnen und Franzosen auf, sich zu versammeln, um die Menschenrechte zu verteidigen, den sozialen Zusammenhalt der Nation zu gewährleisten, um die Einheit der Republik zu bekräftigen und die staatliche Autorität wiederherzustellen.»
Die «Front républicain» sei veraltet, niemand wolle sie mehr, erklärte Marine Le Pen vor wenigen Tagen. Leider scheint sie damit Recht zu haben. Ihre Meinung teilt auch die konservative Rachida Dati. Einst unter Nicolas Sarkozy Justizministerin, nannte sie die Front der Demokraten altmodisch. Dati gehört zu jenen, die zunächst noch «ni ni» waren – weder noch.
Die «Front républicain» bröckelt. Gegenwärtig sind noch eine klare Mehrheit der Französinnen und Franzosen entschlossen, für Macron zu stimmen am 7. Mai – viele davon mit zusammengebissenen Zähnen, da sie weder die Person noch das Programm überzeugt. Sie wollen ihr Land aber nicht einer Marine Le Pen und ihren Leutnants vom FN überlassen. Bleibt zu hoffen, das dieser Teil Frankreichs dann auch wirklich wählen geht.